Wu Wei stammt aus dem Taoismus und es gibt ein ganz tolles Buch dazu von Klaus Fischer, der leider schon verstorben ist. Ich habe mich immer gewundert, dass es nie auf Englisch erschienen ist – aber vielleicht passiert das ja irgendwann noch …
Meine Frau hat mir dieses Buch geschenkt, als ich mich vor fast 10 Jahren selbst in eine Klinik eingeliefert habe. Ich war krank. Ich hatte einen sogenannten ‚Burnout‘. Das Wort mag ich eigentlich nicht wirklich, da es im Prinzip einem Leistungsnarrativ entspricht: Erst hat man für etwas gebrannt, und dann war es damit leider vorbei, und das Feuer ist erloschen. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber der sehr deutsche und technokratische Begriff „Erschöpfungsdepression“ beschreibt es eigentlich viel besser. Denn neben der Erschöpfung ist die Depression das, was das eigentliche Krankheitsbild ausmacht. Aber hier kommen wir vom Thema ab …
Warum fand ich das Buch „Wu Wei“ und die ihm zugrunde liegende Philosophie gerade im Moment des Burnouts so toll? Und wie hat sie mir geholfen mein Leben neu zu denken und entsprechend zu verändern? Worum geht es bei Wu Wei? Man könnte nämlich sagen, dass dieses Buch ganz am Anfang meiner Reise stand, die am Ende auch zu RSLNC und dieser Plattform geführt hat …
Zunächst einmal sind der Taoismus und der radikale Konstruktivismus relativ eng mit einander verbunden (zu letzterem kannst Du hier mehr lesen). Denn genauso, wie wir unsere Wirklichkeit in jeder Sekunde selbst konstruieren – und alle anderen Menschen auch – und das, was wir wahrnehmen rein subjektiv ist und niemals dem Anspruch an eine einzige geteilte Wahrheit erfüllen kann, so unterliegen wir auch der Illusion, dass wir Kontrolle über under Leben haben bzw. uns und unsere Umwelt kontrollieren können.
Der Wunsch, unser Leben kontrollieren zu wollen, und damit unserem Bedürfnis nach Sicherheit gerecht werden, ist also nicht nur unglaublich anstrengend und ein Trigger für Stress und Ängste, sondern im Prinzip ein Don-Quichotte-haftes Unterfangen, dass überhaupt nicht gelingen kann. Denn auf die meisten Dinge, die in unserem Leben passieren, haben wir keinen oder nur sehr geringen Einfluss. Ein paar Beispiele:
- Der Einfluss, den wir oft in Beziehungen auf andere Menschen ausüben wollen (bis hin zu manipulativen Verhalten), und dann entscheidet sie sich doch anders.
- Die Frau oder der Mann, in den wir uns spontan an der Supermarktkasse verlieben, nachdem wir monatelang auf Tinder versucht haben eine(n) Partner(in) zu finden.
- Das gerade in der Werkstatt gewartete Auto, das trotzdem zwei Wochen später kaputt geht.
- Der Auffahrunfall in den wir verwickelt wurden, nachdem wir extra früh losgefahren sind, und an dem wir 5 Minuten später einfach vorbeigefahren wären.
- Die Gehaltserhöhung, für die wir Überstunden gemacht haben, und die wir dann doch nicht bekommen.
Wir versuchen also in vielfältiger Weise unser Leben zu beeinflussen und Kontrolle zu erlangen, werden aber immer wieder damit konfrontiert, dass uns dies nicht gelingt. Das frustriert uns dann meistens doppelt, weil wir nicht verstehen (wollen), dass diese Art der Kontrolle einfach nicht funktioniert und eine Illusion ist. Und genau hier setzt die Idee von Wu Wei an …
Die zentrale Idee lautet: [Da Du Dein Leben sowieso nicht kontrollieren kannst, …] Lass Dich einfach vom Leben leben!
Der Klappentext des Buches von Theo Fischer formuliert es so:
„Wu Wei – das bedeutet, aus dem inneren Zentrum handeln, im Einklang mit dem Fluss des Lebens sein, im Hier und Jetzt leben. Für den modernen Menschen mit seinem hektischen Alltag und dem Stress im Beruf scheint das ein unerreichbares Ziel. Doch die chinesischen Weisen haben einen einfachen und ungeheuer praxisorientierten Weg entwickelt, das Leben in seiner ganzen Vielfalt anzunehmen und zu genießen. Wenn Sie ihm folgen, wird Sie nichts mehr aus der Bahn.“
Für jemand, der sein Leben lang nach Kontrolle gestrebt hat (ich!), ist das natürlich erst einmal eine ungeheuerliche These – auch wenn sie sich zum Zeitpunkt des ersten Lesens in der Burnout-Klinik zunächst einmal entlastend angefühlt hat … Ich muss also einfach nur loslassen und dem Leben vertrauen, und dann wird alles gut? Wow! Schöne Idee. Ehrlich?
Das Ganze erschien mir genauso beängstigend, wie verlockend und potentiell befreiend. Denn Vertrauen ist ja das Gegenteil von Kontrolle. Und obwohl mir die Rationalität der Kontrollillusion sofort eingeleuchtet hat, meldete sich der Sicherheitsbeauftragte in meinem Inneren Team sofort mit einem großen Stop-Schild und einem fetten „Aber …“! Was mich zusätzlich irritiert hat, war die vermeintliche Inkonsistent in der Logik, dass es trotzdem wichtig wäre, im richtigen Moment aktiv zu werden – die ebenfalls ein zentraler Teil der Wu Wei Philosophie ist.
Sieben Jahre später habe ich begriffen, das Wu Wei eine Einladung zum Loslassen ist und gleichzeitig zum darauf Vertrauen, dass das Leben es gut mit mir meint – und eben nicht eine Aufforderung zur Passivität. Denn dann wäre ich ja ein „Opfer“ des Lebens. Es geht vielmehr darum, dem Leben zu vertrauen und im richtigen Moment aktiv zu werden, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich mir bieten. Man könnte auch sagen, mit dem Strom zu schwimmen und dabei die Welle des Lebens möglichst gut zu reiten. Oder aus den Opportunitäten, die sich wie von selbst ergeben und auf die man vielleicht gar keinen Einfluß hatte, das Bestmögliche zu machen. Es braucht also immer auch ein Zugreifen, um eine sich bietende Chance zu ergreifen. Egal, in welchem Lebensbereich sie sich auftut – im Beruf, im Alltag, in Beziehungen oder in der Liebe.
P.S.: Falls Du jetzt gerade denkst, „Dass ist doch ein sinnloses Vertrauen in den Zufall!“, lies hier weiter …