Es gibt ein wunderbares Buch von George Steiner, das mir eine Freundin vor ein paar Jahren geschenkt hat. Es ist faszinierend, und doch hat es mich, wie der Titel ahnen lässt, unglaublich deprimiert: „Warum Denken traurig macht“. Denn, auch wenn ich mich in den vergangenen Jahren sehr verändert und weiterentwickelt habe, hätte ich mich wohl lange Jahre meines Lebens als „Kopfmensch“ bezeichnet und das (schlaue) Denken bestimmte, und bestimmt noch heute einen großen Teil meiner Identität. Du ahnst es nach dieser Einleitung vermutlich schon, was George Steiner da auf den Punkt bringt, sind keine gute Neuigkeiten für Kopfmenschen – und als solche haben wir es immer schon geahnt …

Aber warum macht Denken den nun George Steiner’s Meinung nach traurig? Und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

In seinem Essay hat er 10 mögliche Gründe formuliert:

  1. Denken ist endlos
    Wir können alles denken, und doch liegt eine ‚Theorie von Allem‘ außerhalb und jenseits menschlichen Verstehens. Das Denken ist endlos und kann eine Vielzahl von Universen konstruieren, mit wissenschaftlichen Gesetzen und Parametern, die von den unseren gänzlich verschieden sind. Die Anzahl alternativer Konstruktionen ist dabei unermesslich. Es gibt keinen, es kann keinen verifizierten Beweis für das eine oder das andere geben. Die Unendlichkeit des Denkens ist damit auch eine „unvollständige Unendlichkeit“, die einem unauflösbaren Widerspruch unterliegt. Wir werden nämlich niemals wissen, was stimmt bzw. was die Gesamtheit der „Realität“ ist. An entscheidenden Fronten gelangen wir trotz allem Denken nicht zu befriedigenden, geschweige denn abschließenden Antworten. Dieser innere Widerspruch liegt allem Denken zugrunde. Es bleibt die Frustration des Zweifels.
  2. Denken ist unkrontrolliert und willkürlich
    Selbst im Schlaf setzt es sich fort und nur selten beherrschen wir es. Es kann somatischen und psychosomatischen Tiefen entspringen, die sich jeglicher Selbstbeobachtung (Introspektion) entziehen. Gleichzeitig unterliegt es der potentiellen Störung innerer und äußerlicher Einflüsse, die seine lineare Entwicklung unterbrechen, ablenken, verändern, durcheinanderbringen. Eine fortwährende Diskontuität. Dabei findet das bei weitem größte Ausmaß an Erinnern und Vergessen an den unscharfen Rändern gewollten Denkens statt. Ist es wirklich möglich „gradlinig“ zu denken? Nur selten gelingt es uns um den Preis absoluter Konzentration. Solche Klarheit ist nur wenigen vorbehalten, und auch nur von kurzer Dauer. Diese absolute Konzentration führt oft zu vorübergehender Erschöpfung, manchmal aber auch zum geistigen Zusammenbruch. Es ist in der Konsequenz also möglich, dass das Rauschen gewöhnlichen Denkens auch eine Art Schutzfunktion hat. In den allermeisten Fällen ist das gewöhnliche Denken also ein ungeordnetes, dilettantisches Unterfangen.
  3. Denken ist zutiefst intim, aber gleichzeitig absolut gewöhnlich, abgenutzt und repetitiv
    Im Denken sind wir uns gegenwärtig. An uns selbst zu denken macht den wesentlichen Bestandteil unserer Identität aus. Ich kann nicht denken, dass ich nicht bin. Das Erlöschen des Denkens ist tautologisch jenes des Ichs. Gleichzeit kann nichts und niemand auf nachprüfbare Art und Weise mein Denken durchschauen oder meine Gedanken lesen. Ich kann meine Gedanken ganz und gar verheimlichen. Selbst Folter kann sie mir nicht zweifelsfrei entreissen. Niemand anderes kann meine Gedanken an meiner Statt denken. Gedanken sind unser einziges gesichertes Gut. Sie machen unser Wesen aus, unser bei uns sein oder aber auch die Entfremdung von uns selbst. Der ihnen innewohnende Druck ist so beschaffen, dass wir uns zeitweise bemühen, sie vor uns selbst zu verbergen oder zum Schweigen zu bringen. Die Konsequenz daraus ist, dass es uns keine noch so große Nähe (emotional, sexuell, ideologisch, räumlich, etc.) in die Lage versetzen wird, die Gedanken einer/s anderen zweifelsfrei zu entschlüsseln. Gleichzeitig ist die Fähigkeit zu lügen, Fiktionen zu ersinnen und aufzuführen ein wichtiger Teil unseres Menschseins. Dazu gesellt sich folgendes Paradox: Dieser unzugängliche Kern unserer Einzigartigkeit, dieses innerste, privateste, verschlossenste aller Besitztümer ist zugleich ein milliardenfacher Gemeinplatz. Unsere Gedanken sind in überwältigendem Ausmaß universell und werden jetzt, früher oder später millionenfach von anderen gedacht – unendlich banal und abgenutzt, selbst in den individuellsten und intimsten Momenten unserer Existenz. All dies ist eine unausweichliche Konsequenz der Sprache und ihrer Begrenztheit. Wir werden in eine sprachliche Matrix hineingeboren, die wir uns alle teilen. Die Wörter, die wir nach innen und außen nutzen, um unser Denken zu übermitteln, sind repetitiv und begrenzt, und demokratisieren die Intimität. Daraus folgt, dass wirkliche Originalität im Denken, dass das allererste Denken eines Gedankens äußerst selten sind. Oft erzeugt der Wortlaut, nicht der Inhalt, den Eindruck von Neuheit. Die durch die Äußerung verursachte Kraft und Erschütterung mag beträchtlich sein, doch es gibt absolut keinen Beweis dafür, dass dieser Gedanke noch nie vorher in Umlauf gebracht worden wäre. Mit entsprechender Ehrfurcht hat Einstein festgestellt, dass er in seinem ganzen Leben nur zwei authentische Ideen hatte. Oft ist „Originalität“ entsprechend lediglich eine Variation oder Erneuerung des bereits Bestehenden. Das Denken ist in höchstem Maße unser Eigentum, verborgen im tiefsten Innern unseres Seins, aber gleichzeitig die gewöhnlichste, abgenutzteste und repetitivste aller Handlungen. Die Widerspruch lässt sich nicht auflösen.
  4. Denken führt niemals zur einen Wahrheit
    Wie wir gesehen haben, kann es kein endgültiges Verifizieren von Wahrheit oder Irrtum bzw. Aufrichtigkeit oder Unaufrichtigkeit im subjektiven Denken geben. Das selbe gilt leider auch für das Steben nach objektiver Wahrheit im öffentlichen, systematischen Denken. Selbst die experimentell beweisbaren und empirisch anwendbaren Wahrheiten der Wissenschaften beruhen auf theoretischen oder philosophischen Annahmen, die jederzeit revidiert oder falsifiziert werden können. Wo immer das Denken auf „Wahrheit“ abzielt, relativiert sie dieses Kriterium bereits im Augenblick des Hinweises. „Wahrheit“ verweigert sich dem endgültigen Beweis. Im besten Fall erzeugt Denken das, was Wallace Stevens als „erhabenste Fiktion“ bezeichnet hat. Dabei steht auch unsere Sprache dem monochromen Ideal der „Wahrheit“ zuwider und ist immer mehrdeutig und vielstimmig. Sie trachtet beständig danach, die Herrschaft über das Denken zu übernehmen. Wir erfinden in die Vergangenheit und erträumen die Zukunft. Und bringen sie über die Sprache zum Ausdruck. Doch all diese Gedankenexperimente bleiben immer Fiktion. Und egal, wie sehr wir uns im Denken mühen und wie nüchtern wir die Sprache wählen, kann es keine eine Wahrheit geben.
  5. Denken ist verschwenderisch und bulimisch
    Unglaublich verschwenderisch ist das Denken, eine Vergeudung in ihrer schlimmsten Form. Wir können die benötigte Energie messen und sind nach längerer Konzentration oft erschöpft. Mehr noch, das Gehirn ist für einen großen Teil unseres Energieverbrauchs verantwortlich. Dabei sind Denkprozesse, sein sie bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen in überwältigendem Maße diffus, ziellos, zerstreut und unbeobachtet. Sie sind „überall“, was in Wendungen wie „Kopflos sein“, „den Kopf verlieren“ seinen Ausdruck findet. Keine andere menschliche Tätigkeit dürfte so verschwenderisch sein. Unaufhörlich huscht fast die gesamte Masse an Gedanken an uns vorbei, formlos, hilflos. Hirnforscher gehen davon aus, dass wir jeden Tag ca. 60.000-70.000 Gedanken denken. Doch 90% davon sind vollkommen repetitiv. Diese Gedanken sättigen unser Bewusstsein, und vermutlich auch Unterbewusstsein, und schwinden doch dahin. Woran wir noch vor einer Stunde gedacht haben, hat ggf. überhaupt keine Spuren hinterlassen. Die Masse menschlichen Denkens verschwindet unbemerkt. Das selbe gilt für unsere Träume. Und wenn man dann mal meint, einen „genialen Gedanken“ erträumt oder erdacht zu haben, ist er im nächsten Moment schon wieder verschwunden, plötzlich nicht mehr zugänglich, getilgt, wie Abermillionen anderer Gedanken, die uns in unergründlicher Verschwendung durchfluten. Damit stellt sich die Frage, wie viele große Erkenntnisse in der gleichgültigen Flut unbeachteten Denkens, im ungehörten oder überhörten Selbstgespräch der täglichen und nächtlichen Hirnemmissionen verloren gehen? Der Verlust ist maßlos.
  6. Denken ist unvermittelt, beschränkt und hat keinen direkten Einfluß auf das Geschehen außerhalb seiner selbst
    Die weitaus größte Zahl gewohnheitsmäßiger Handlungen und Gesten wird „gedankenlos“ ausgeführt. Sie kommen intuitiv oder mittels erworbener Steuerung des vegetativen Nervensystems zustande (Sympathikus und Parasympathikus). Doch selbst da, wo eine Handlung sehr sorgfältig und bewusst „durchdacht“ ist, kann auf den Zusammenhang nur geschlossen werden. Die Einschübe zwischen Gedanke und Tat sind dabei so vielfältig wie das Leben selbst. Dass zwischen Vorstellung und Umsetzung ein Abstand klafft, ist ein Gemeinplatz endloser Niederlagen, die wir beklagen. „Ich kann es nicht in Worte fassen.“ oder „Das Werk kann nicht vollständig ausdrücken, was ich mir vorgestellt habe.“ Kurzzeitiges Verstehen und methaphorisches Aufblitzen schwingen gegen den Rand der Sprache und schwinden wieder außer Reichweite. Selbst eine äußerst umsichtig kalibrierte und fokussierte Denkbewegung wird sich nur unvollkommen „verkörpern“ lassen, ist lediglich ein Kompromiss des „Ideals“, eine Fiktion des Absoluten. Die Idee der Perfektion ist ein unerfüllbarer Traum des Denkens, eine begriffliche Abstraktion, ähnlich dem Unendlichen. So Tragen alle unsere Zukünfte, Projektionen und Pläne – von Routine geprägt oder utopisch – die Möglichkeit der Enttäuschung in sich. Der Virus der Unerfüllbarkeit nistet in der Hoffnung. Es mag so sein, als sei alle Wahrscheinlichkeit auf unserer Seite, aber eine Garantie kann es nie geben. Meistens bleibt das Ergebnis hinter unseren Hoffnungen zurück. Wir hoffen, wider der Hoffnung. Was für eine Enttäuschung.
  7. Denken ist nicht zu stoppen und bleibt gleichzeitig unergiebig
    Es gibt zwei Prozesse, die der Mensch zu Lebzeiten nicht anhalten kann: Atmen und Denken. Die meisten Menschen können dabei länger den Atem anhalten, als das Denken (falls dies überhaupt möglich ist). Diese Unfähigkeit, das Denken zum Stillstand zu bringen bzw. eine Pause vom Denken einzulegen, bedeutet einen erschreckenden Zwang. In jedem Augenblick unseres Lebens bewohnen wir die Welt mittels des Denkens. Im Sinne Kant’s oder des radikalen Konstruktivismus erzeugt dabei unser Denken unsere subjektive „Realität“ – die „Wirklichkeit“, wie immer sie beschaffen sein mag, bleibt unzugänglich. Sie entzieht sich jedem beweisbaren, gesicherten Zugriff und mag maximal auf eine kollektive Halluzination, einen gemeinsamen Traum hinauslaufen. In der Konsequenz operiert selbst der erfinderischste, umfassendste und begabteste Geist innerhalb von Grenzen, die sich nicht wahrhaft definieren, geschweige denn ausmessen lassen. Aber wie lässt sich so die Richtigkeit unserer kühnsten Annahmen feststellen? Welche Beweisen haben wir dafür, dass der Fortschritt empirischer Untersuchungen und theoretischer Konstrukte unbegrenzt ist? Wieviel von unserer stolzen Wissenschaft ist nicht ebensosehr Fiktion? Das Denken verhüllt wahrscheinlich mehr, als es enthüllt.
  8. Denken ist undurchsichtig und macht einsam
    Seine Undurchsichtigkeit macht es unmöglich zweifelsfrei zu wissen, was ein anderes menschliches Wesen denkt. Dieser Ungeheuerlichkeit schenken wir zu wenig Aufmerksamkeit. Sie sollte uns erschaudern lassen. Weder Fragen, noch Hypnose, noch Drogen vermögen auf irgendeine nachprüfbare Weise die Gedanken eines/r anderen hervorzulocken. Bekenntnisse und Aussagen mögen in aufrichtiger Absicht gemacht werden bzw. entschlossene Enthüllungen oder Fragmente ehrlicher Selbstentblößung, können aber gleichermaßen Lüge, Halbwahrheit oder Selbsttäuschung sein. Die Palette der Unaufrichtigkeit ist unerschöpflich. Die bloße Frage „Woran denkst Du?“ löst Antworten aus, die vielschichtig sind und ggf. unbemerkt komplexe Filter durchquert haben. Selbst in Augenblicken größter Intimität – und in diesen vermutlich am schmerzlichsten empfunden – kann der/die Liebende die Gedanken des/der Geliebten nicht erfassen. Wir werden nie erfahren, welch tief verborgene Unaufmerksamkeit, Abwesenheit, Abneigung oder alternative Vorstellung das erotische Erleben begleiten. Selbst die einander nächststehenden, aufrichtigsten Menschen bleiben füreinander auf gewisse Weise immer Fremde, mehr oder weniger unerklärt. zwar sind wir am lesbarsten in Momenten spontaner Gefühlsäußerung. Hier liegt unser Wesen bloß. Doch diese Öffnung hin auf die Welt ist nur von kurzer Dauer. Letztlich kann uns Denken zu Fremden füreinander machen. Die intensivste Liebe ist eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.
  9. Denken ist zutiefst demokratisch und doch sozial nicht gerecht
    Jeder Mensch ist ein Denker. Der Schwachsinnige, wie das Genie. Die genialsten Gedanken können von jedem/r zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort gedacht worden sein, ohne Konsequenzen gehabt zu haben. Nur ein Bruchteil unserer Gedanken überlebt und trägt Frucht. Dürfen wir also dieses geistige Geplapper überhaupt mit ein und derselben schlampigen Definition („Denken“) kategorisieren, wie Einstein’s Relativitätstheorie? Wir behelfen uns damit, dass wir die „großen Gedanken“ intellektueller, künstlerischer oder politischer Genies von den unbedeutenden Gedanken des Alltags unterscheiden. Oder die „tiefe Gedanken“ von den trivialen und oberflächlichen. Wir denken also alle die ganze Zeit, aber die Fähigkeit, Gedanken zu denken, die es Wert sind, gedacht zu werden – geschweige denn, die es wert sind, ausgesprochen und festgehalten zu werden – scheint eher rar gesät. Ein identisches Etikett verschleiert also den in Lichtjahren zu messenden Unterschied zwischen dem Rauschen der banalen Gedanken, welches aller Menschen Existenz eigen ist, von der wunderbaren Komplexität und Kraft außergewöhnlichen Denkens. Und dabei kann man sich zusätzlich fragen, ob dieses Denken überhaupt erwünscht ist? Denn intellektuelle Leidenschaft und ihre Erscheinungsformen führen auch immer wieder zu Neid, Hass und Spott. „Großen Gedanken“ wird also nicht per se mit Wohlwollen begegnet. Und es stellt sich auch die Frage, ob entsprechendes Denken von jedem/r erlernt werden kann? Gibt es also einen pädagogischen Schlüssel zur Kreativität? Die „Zutaten“ dazu können sicherlich erlernt werden, aber das Genie kennt keine Demokratie. Nur fruchtbare Ungerechtigkeit und lebensbedrohliche Last. Es gibt jene wenigen, wie Hölderlein sagt, die gezwungen sind den Blitz mit blossen Händen zu fangen. Dieses Missverhältnis zwischen großem Denken bzw. großer Schöpfungskraft und den idealen sozialer Gerechtigkeit lässt sich nicht auflösen.
  10. Denken bleibt sich selbst genug und kann das Wesentliche nicht beantworten
    Müssen wir über etwas nachdenken, oder können wir einfach denken? Braucht das Denken also ein Objekt, oder ist das Denken in dem Sinne autonom, dass wir auf bestimmten Ebenen ungehinderter Fokussierung das, was wir erdenken, vollkommen durchdringen und erfassen können? Können wir also das Nichts denken, den Wesensgrund des Seins bzw. den Ursprung des menschlichen Lebens? Das beinhaltet natürlich gleichzeitig auch den Tod, der eine andere Lesart des Nichts bietet. Diese Leere, dieses Nichts ist für die meisten von uns „undenkbar“ – sowohl im gefühlsmäßigen wie auch im logischen Sinne des Wortes. Selbst in seiner beständiger Bewegung und Aktivität scheint das menschliche Denken die Leere, das schwarze Loch des Nichts zu meiden. Gleichzeitig jedoch beschäftigt das Rätsel menschlicher Identität, bzw. unsere Anwesenheit in einer wie auch immer gearteten Welt, ein Leben lang unser Denken. Dabei bleibt es eine erdrückende Tatsache das, egal welche Intensität das Denken auch haben mag, welche Sprünge über Abgründe des Unbekannten hinweg es auch macht, wie groß sein Talent zu Kommunikation und symbolischer Darstellung ist, dem Erfassen des Ursprungs allen Seins kommt es dadurch nicht näher. Wir sind einer nachprüfbaren Lösung des Rätsels unserer Existenz, ihrer Natur und ihres Zweckes (wenn es ihn überhaupt gibt), wir sind einer Antwort auf die Frage, ob der Tod endgültig ist oder nicht, ob es Gott gibt oder nicht, keinen Zoll näher gekommen. Letztlich führt all dieses Denken also nirgendwohin. Keinerlei Beweis lässt sich daraus ableiten.Der einzige Schluss: Alles ist möglich. Die Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit der Wissenschaften, ihr triumphaler Fortschritt begründen zwar ihre wachsende Macht in unserer Kultur. Gleichzeitig machen sie auch ihre selbstherrliche Trivialität aus. Die Wissenschaft kann auf die wesentlichen Fragen, die den menschlichen Geist beschäftigen oder beschäftigen sollten, keine Antwort geben. Die Beherrschung des Denkens hebt den Menschen über alle anderen Lebewesen hinaus, doch macht es ihn selbst und der Ungeheuerlichkeit der Welt gegenüber zum Fremden.

Soweit zu George Steiner’s Essay und den identifizierten Gründen für eine mögliche Melancholie, die dem Denken innewohnen kann. Ich muss zugeben, die Lektüre hat mich fasziniert, und doch irgendwie beklommen zurückgelassen. Wir bilden uns so viel auf unser Denken und unseren Intellekt ein. Wir haben uns als Menschen versucht die Welt mit unserem Verstand zum Untertan zu machen. Und scheinen dabei grandios gescheitert zu sein. Wir haben das Denken über die Intuition und das Fühlen gestellt, und dabei oft letztere verlernt. Nur um am Ende vor Augen gehalten zu bekommen – und damit ein Bewusstsein dafür zu erhalten – wie beschränkt dieses von uns heroisierte „Denken“ tatsächlich ist.

Das hat mich zunächst traurig zurückgelassen und diese Melancholie zeigt sich mir auch heute wieder, beim Schreiben dieses Beitrags. Doch am Ende bleibt es dabei: „Bewusstheit ist der Beginn von allem!“ Und diese Bewusstheit kann uns dabei helfen, immer wieder zu überprüfen, an welchen Stellen uns das Denken tatsächlich hilft und weiterbringt, und wo wir andere Fähigkeiten nutzen oder (wieder) erlernen sollten.

Anmerkung: Die Zusammenfassung von George Steiner’s Essay nutzt an vielen Stellen Passagen des Originaltextes. Entsprechend macht eine Kenntlichmachung der Zitate im Sinne des Leseflusses keinen Sinn. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2006