Zunächst eine Bemerkung vorab: Ich arbeite selber als Systemischer Coach. Gleichzeitig nehme ich berechtigte Kritik oder auch nur andere Perspektiven sehr ernst und betrachte sie grundsätzlich als bedenkenswert. Als ich also neulich in einem Podcast von einer fundamentalen Kritik am Coaching – insbesondere dem Business Coaching – gehört habe, hat mich das zum Nachdenken gebracht. Die Grundthese bzw. -frage der Kritik war folgende:

Unterstützt Coaching nicht im Kern die Aufrechterhaltung dysfunktionaler oder gar toxischer Organisationen, indem es den Menschen hilft sich besser an diese Systeme und die sie stabilisierenden Mechanismen anzupassen?

Das finde ich zunächst erst einmal eine sehr interessante und berechtigte Frage. Denn es ist ja ein recht typisches Coaching-Anliegen einem Coachee dabei zu unterstützen, neue Ideen oder Strategien z.B. für den Umgang mit einem Konflikt mit einem Vorgesetzten oder Kollegen zu entwickeln. Dabei geht man natürlich (zumindest im ersten Schritt) davon aus, dass man die Haltung oder das Verhalten der anderen Person erst einmal wenig beeinflussen kann, sondern nur den eigenen Umgang damit. So weit, so gut. Dies könnte man oberflächlich natürlich im Sinne der Kritik als Bestätigung interpretieren.

Aber auch, wenn man die formulierte Kritik in diesem Sinne für berechtigt ansieht, hält sie den Grundprinzipien und der Realität des Coaching nicht stand. Warum?

  1. Eine elementare Grundhaltung des Coachings ist es, Menschen in ihrem persönlichen Wachstum zu unterstützen. Oder mit anderen Worten, Ihnen zu helfen, sprichwörtlich über sich selbst hinauszuwachsen – also die Person, die sie heute sind. Ein zweites hieran anknüpfendes Prinzip ist es, dass sie alles, was sie dafür brauchen, bereits in sich tragen.

    In diesem Sinne geht es um absolute positive Zugewandtheit des Coaches, der quasi nur Geburtshelfer für den Coachee ist. Ich spreche hier auch oft von einem Reiseführer/-begleiter auf dem Weg zu einem vom Coachee formulierten Ziel. 

  2. Außerdem kommt in der Regel niemand zu einem Coach, weil es ihm gut geht bzw. er meint alle Antworten bereits für sich gefunden zu haben. Es liegt dem Coaching also eine wie auch immer geartete Hilfsbedürftigkeit zugrunde. Ansonsten würde es keinen Sinn machen, Zeit und Geld in ein Coaching zu investieren. Das ist zwar kein Gegenargument gegenüber der geäußerten Kritik, aber trotzdem wichtig.
  3. Des Weiteren macht es Sinn näher zu betrachten, welchen Zielen Coaching in der Regel dient. Derer gibt es natürlich viele, aber die Reslienzfähigkeit ist eine herausragend wichtige. Und damit die Frage: „Wie kann ich mit Umständen oder Situationen, die mich belasten, besser umgehen?“. Es geht hier also um Dinge wie:
      • Bewusstheit & Verstehen | „Warum sind die Dinge so, wie ich sie erlebe? Habe ich ggf. blinde Flecke?“
      • Empathie & Perspektivübernahme | „Wie schauen ggf. andere auf das, was ich erlebe? Und, ist das angemessen und/oder berechtigt?“
      • Selbstschutz & Selbstfürsorge | „Wie kann ich in jeder beliebigen Situation erreichen, dass es mir gut geht und ich in meiner Mitte bleibe?“
      • Selbstwirksamkeit & Selbstbewusstsein | „Wie kann ich mich in herausfordernden Situationen bestmöglich verhalten, um meinen Bedürfnissen gerecht zu werden?“

    Ein weiteres wichtiges Ziel des Coachings ist Orientierung. Hier ist der Coach eher ein Sparringspartner. Diese Facette spielt vor allem im Führungskräfte- und Karriere-Coaching eine Rolle. Hier geht es um Themen wie:

      • Haltung & Werte | „Was ist mir eigentlich wirklich wichtig? Wovon lasse ich mich leiten?“
      • Kompetenzen & Stärken | „Was kann ich besonders gut? Wo lohnt es sich dazuzulernen? Was sollte ich lieber anderen überlassen?“
      • Wünschen & Zielen | „Was sind meine Träume? Was möchte ich erreichen? Wie möchte ich mein Leben gestalten?“
  4. Nicht selten fühlt Coaching auch dazu, dass das veränderte Verhalten des Coachees gleichzeitig auch eine Intervention für das System (also ggf. die dysfunktionale Organisation oder ihre Protagonisten) darstellt. Dies kann dann dazu führen, dass Bestehendes in Frage gestellt wird und sich eine tatsächliche nachhaltige Verbesserung einstellt. Da Systeme prinzipiell selbsterhaltend sind, gab es dafür ggf. nur noch keine Notwendigkeit (jenseits ethisch-moralischer Gründe).
  5. Selbst in den besonders „fragwürdigen“ Fällen, wo das Coaching einer Person von Seiten der Organisation initiiert wird, und diese Person sich ggf. sogar zunächst dagegen sträubt, weil sie es als eine Art „Strafmaßnahme“ versteht, ist das Ergebnis häufig, dass diese Person erkennt, dass sie selber sehr unglücklich mit der Situation ist, kündigt und sich ein neues Arbeitsumfeld sucht, in dem sie deutlich zufriedener ist.

Zusammen genommen geht es beim Coaching also weniger um die „unterwürfige“ Anpassung an ggf. toxische Zustände als vielmehr um das persönliche Wachstum des Coachees, dass ihn/sie in bisher unbekanntem Maße resilient macht und ihn/sie Selbstwirksamkeit vollkommen neu erleben lässt. Das stärkt per se sowohl das Selbstbewusstsein als auch das empfundene Selbstwertgefühl des Coachees.

Und das finde ich ganz wunderbar. Nicht nur als Coach, sondern als Mensch!